Die Phileasson-Saga: Auf der Spur des Wolfes

Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko

aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson

 

Ottaskin der Hetleute, Thorwal

7. Firun 1009 nach Bosparans Fall

 

Geraume Zeit nach der Mittagsstunde stapfen zwei Männer durch den kniehohen Schnee, der wie eine weiße Decke das Kliff Thorwals vollständig bedeckt. Kaum ein Windstoß regt sich, und nur wenige Wolken sind am eisig blauen Himmel auszumachen. Die Dämmerung beginnt bereits einzusetzen und über der Ottaskin der Hetleute steht bereits fahl und durchscheinend das Madamal und kündet von einer weiteren eisigen, langen und dunklen Nordnacht. Vor der Großen Halla angekommen klopfen sich die beiden Männer – der hünenhafte Hetmann Phileasson und sein Steuermann aus den südlichsten Gefilden Aventuriens, der Moha Ynu – den Schnee von den schweren Lederstiefeln und treten in die warme und von flackerndem Fackellicht erhellte Halla. Dort sind bereits einige Nordmänner anwesend, unter anderem auch der junge Skalde Mandred Ormson und der zwielichtige Magier Aleya Ambareth. Am Ende des Tisches sitzt auch ein junger Thorwaler mit dichten, schwarzen Haaren und Hakennase. Asleif Phileasson schaut in dessen Richtung und nickt dem Nordmann freundlich zu: „Hast es auch wieder in die warme Halla geschafft, Thorn Beornson. Freut mich, ganz im Ernst. Lass uns darauf zusammen trinken, das Wohl!“ Mit diesen Worten lässt sich der Hetmann in den schweren Eichenholzstuhl am Kopfende des massiven Tisches der Halla sinken und schenkt sich warmen Met in sein Trinkhorn. Er prostet Thorn zu, nimmt einen tiefen Schluck und wendet sich dann an den Skalden Mandred, der bereits mit einer Gänsefeder bewaffnet über mehreren Seiten Pergament brütet: „Sieht gut aus Mandred, sind ja schon einige Seiten Pergament, die wir da geschafft haben. Na, genau genommen eher du, ich erzähle ja nur. Ich kann dir auf jeden Fall versichern, es wird noch mehr kommen, viel mehr. Mehr als du dir vorstellen kannst.“ Phileasson grinst den jungen Nordmann an. Mandred genehmigt sich ebenfalls einen Schluck Honigwein, bevor er antwortet: „Ich bin gespannt, was noch kommen wird, Freund Asleif, das Wohl! Wenn es so weiter geht werden die Skalden schon bald von meiner ruhmreichen Kriegsverletzung singen: Einer wunden Schreibhand, bei Swafnir!“ Mandred lacht, und der Hetmann und die anderen Anwesenden stimmen in das Lachen ein. Selbst Thorn Beornson hat nun ein Grinsen im Gesicht. Als es wieder ruhiger wird ergreift der eisblonde Hetmann der Glutströhm-Ottajasko wieder das Wort: „So soll es sein! Am Ende wirst du schon dankbar sein, wenn du nur eine von beiden Händen nicht mehr bewegen kannst, das Wohl! Nun, wo war ich denn stehen geblieben. Ach ja, der Aufbruch nach Vallusa, bei Swafnir! Ja, ich weiß noch, es war recht kühl und dichter Nebel lag über der Küstenstraße, fast wie hier bei uns in Thorwal. Ich glaube es war bereits Ende des Mondes Peraine damals. Dachten wir ursprünglich, die Wegstrecke von Festum bis an die Grenzen des Mittelreichs wäre einfach und in wenigen Tagen ohne Zwischenfälle zu bewältigen, so wurden wir schon bald eines Besseren belehrt. Die Kaiserstraße ist gut ausgebaut und befestigt, und so kamen wir mit unseren Pferden zuerst recht gut voran. Damals dachte ich bereits ich muss meinen Allerwertesten bald wieder vom Rücken des Pferdes auf ein richtiges Schiff versetzen, sonst wachsen mir noch Pferdehaare aus dem Hintern, das Wohl! Hätt' da noch nicht gedacht und auch nicht geglaubt, wenn's mir einer gesagt hätte, wieviele Tage, Wochen und Monde ich noch zu Pferde verbringen sollte. Erst hier, dann später in Mhanadistan. Bin mir gar nicht sicher, was die Zwerge mehr gehasst haben – Schiffe oder Pferde!

Anfang Ingerimm kam es zum ersten Zwischenfall auf dieser Reise. Wir übernachteten in einem Gasthaus am Rande der Straße. Irgendein Knilch hat dann unsere Pferde vertrieben, und meine Männer konnten sie nur mit Müh' und Not nach und nach wieder einfangen. Das war allerdings nur eine Ablenkung, den in der Zwischenzeit wurde Feuer in unserem Gasthaus gelegt! Swafnir sei's gedankt, dass wir alle noch rechtzeitig aus dem Feuer herausgekommen sind! Wir haben natürlich dem armen Gastwirt geholfen, zu retten was noch zu retten war – viel war es allerdings nicht mehr. An Schlaf war dann natürlich nicht mehr zu denken, daher sind wir dann schon vor den ersten Sonnenstrahlen weitergezogen. Zur Mittagsstund' sind wir in Skorpsky angekommen, einem kleinen Fischerdorf. Ab hier wurde die Gegend sumpfiger und schwerer begehbar, die befestigte Kaiserstraße endete hier in einem mehr schlecht als recht gesicherten Knüppeldamm. Damals haben wir dort einen Führer angeheuert, ich glaube Torben war sein Name. Ja, Torben irgendwas. Am nächsten Tag kamen wir in Ratheim an, ein kleines Pfahldorf. Hätten wir es nicht besser gewusst, man hätte bei all den halbnackten Menschen und den auf Pfählen gebauten Holzhütten gedacht man wäre irgendwo bei Selem oder Mengbilla gelandet, das Wohl! Das Essen war auch nicht sonderlich abwechslungsreich, meine Männer begannen bereits über die Fischgrütze zu murren, die es Tag ein Tag aus gab. Hal

Einen Tag später betraten wir dann über die Märkische Brücke endlich die freie Stadt Vallusa, die in der Mündung der Misa ins Perlenmeer auf einer Insel genau zwischen dem Bornland und Tobrien liegt. Natürlich haben wir uns zuerst ein feines Gasthaus gesucht und uns dort mit gutem Bier die Kälte aus den Gliedern getrieben. Die Stadt war ganz anders als Festum – man merkte, dass den Bewohnern nach und nach der Platz ausging, denn die Gebäude standen allesamt eng zusammen und die Giebel der oft mehrere Stockwerke umfassenden Gebäude berührten sich fast. Recht schnell haben wir herausbekommen, dass der Blender und seine Begleiter bereits einige Tage vor uns in der Stadt gewesen sind. Nicht weiter verwunderlich. Seltsamer waren da schon die Schauermärchen, dass die Geister auf dem Zwergenplatz durch den einäugigen Fremden aufgeweckt wurden und des Nachts die Stadt heimsuchen. Den Tag über suchten wir in den Archiven des Rathauses und Tempeln nach Berichten über den Steppenwolf und des Nachts besuchten wir dann jenen Platz, auf dem der Wolfsgeist umgehen soll.“ Phileasson nimmt einen Schluck Honigwein, dann schaut er sich in der Halla um und wendet sich dann an einen stämmigen Thorwaler mit wilden, braunen Haaren: „Jorgen, ich glaube es ist an der Zeit, unsere Zuhörer mit einem guten Mahl zu stärken, nicht dass sie mir hier noch einschlafen! Und wenn ich dabei auch den ein oder anderen Bissen abbekomme, bin ich dir dankbar!“ Jorgen Olgulfson nickt dem Hetmann grinsend zu und begibt sich in einen Nebenraum der Halla. Asleif lehnt sich zurück, lässt seinen Blick kurz über die Runde seiner Zuhörer schweifen, und fährt dann fort: „Na, auf jeden Fall, Lesen ist eine wirklich langwierige Arbeit, und so brauchten wir einige Tage, bis wir endlich genügend Informationen über den Steppenwolf gesammelt hatten. Da hat es sich ausgezahlt, dass wir einen Magus dabei hatten, das Wohl! Am ersten Tag schauten wir uns natürlich auch noch den berühmten Ingerimmtempel an, der zusammen mit einer gewaltigen Mauer und einem hohen Leuchtturm schon seit Jahrhunderten auf der Ostseite der Brandung des Meeres trotzt. Schon beeindruckend, muss man sagen. Ungrimm stand stolz daneben, als ob er den Tempel und die Mauer eigenhändig gebaut hätte. Schon seltsam manchmal, dieser Zwergenstolz auf ihr Volk und ihre Bauwerke. Abends haben wir uns dann auf dem Zwergenplatz genauer umgeschaut. Dort stehen genau vor dem Tempel der Rondra vier mannshohe Wolfsstatuen, bei einer haben meine Männer dann sogar eine Inschrift in Isdira finden können. Hm, so lange ist es her … lass mich mal überlegen, ja … die Inschrift lautete in etwa so:

 

Gewidmet meinem gemordeten Bruder.

Die letzte Schande zu überwinden,

im Blutturm den Frevel zu finden,

der Letzte im Kampf den Dieb zu bezwingen,

das Schwert des Bewahrers nach Tie'Shianna zu bringen.

Möge dein Licht den Weg nach Gontarin gefunden haben!

 

Damals konnten wir uns aus diesen Zeilen natürlich noch keinen Reim machen. Später konnten wir nur herausfinden, dass der Blutturm in der tobrischen Hauptstadt Ysilia liegt. Gontarin, die Totenwelt der Inseln im Nebel, war uns zu dieser Zeit jedoch völlig unbekannt, und auch von den Shiannafeya, den Wüstenelfen und Wächtern Selflanatils, hatten wir damals noch nie etwas gehört. Von Tie'Shianna immerhin wussten wir bereits recht viel, hatte uns doch Niamh Biangala in ihrem Zauberwald von der letzten Schlacht um die Hauptstadt des alten Elfenreichs berichtet.

Nachts hatten wir dann tatsächlich eine unheimliche Begegnung mit einem Geist. Mir sträuben sich heute noch die Nackenhaare, wenn ich daran denke. Die Spukgestalt wimmerte und heulte, und wir brauchten eine ganze Weile, ehe wir die Worte verstehen konnten. Der Geist – es war Nantiagel, der Bruder Lailaths, wie wir später erfuhren – flehte uns an, die Silberflamme, in der alten Sprache Selflanatil genannt, zu suchen und sie zurück nach Tie'Shianna zu bringen. Auf diesen Schreck haben wir dann erst einmal einige Schnäpse getrunken, das Wohl!

Am nächsten Tag schleppte der Andergaster dann einen Elfen namens Shirandra an, der angeblich einige unserer Pferde wieder beruhigt hatte, als sie vor Vallusa im Gasthaus losgeschnitten worden sind. Na, Wulf glaubte ihm das, und da er ebenfalls in Richtung Süden unterwegs war schloss er sich uns kurzerhand an. Manchmal ist es schon seltsam, auf welchen verschlungenen Pfaden man neue Mitstreiter kennenlernt, nicht wahr Ynu?„ Mit diesen Worten prostet der blonde Hetmann dem Moha grinsend zu und beide nehmen einen tiefen Schluck aus ihren Methörnern. Dann fährt Asleif Phileasson mit seiner Erzählung fort: „Die Suche nach Hinweisen verlief schleppend und bald hatten wir schon alle Archive der Stadt durchgewühlt. Man sagte uns allerdings, dass wir in den Hallen der Ardariten, einem Rondra-Orden, der hier in der Stadt ebenfalls ein Ordenshaus hatte, noch mehr über die Vergangenheit der Stadt finden würden. Nur durften wir da natürlich nicht rein. Da hat sich dann mal wieder der Andergaster bezahlt gemacht. Recht schnell fand er heraus, dass einer der Ordenritter eine heimliche Liebschaft mit einem jungen Mädchen pflegte. Und prompt hatten wir Zutritt zu den Archiven des Ordens, bezahlen mussten wir lediglich mit unserer Verschwiegenheit, das Wohl! Ich fasse das mal zusammen, sonst verstehen deine Zuhörer die Saga später nicht, Freund Mandred. Am Ende unseres Aufenthalts in Vallusa hatten wir also folgende neue Informationen gesammelt: Der Steppenwolf, ein Nivese namens Erm Sen, war der Anführer einer Truppe Kamelreiter, die viele Jahrhunderte vor unserer Zeit für das Reich von Hal stritten. In der Wüste trafen sie dabei immer wieder auf einen seltsamen Wüstenstamm – die Beni Geraut Shie – die manch einer für Dämonen hielt. Nach einem Gefecht gegen diese geheimnisvollen Wüstenkrieger – recht bald haben wir erfahren, das es sich bei den Beni Geraut Shie in Wahrheit um die Wüstenelfen handelte – nahm Erm Sen einem der zu Staub zerfallenen Krieger ein Schwert ab. Die Silberflamme, also jene ‚silberne Flamme‘ aus Shayas Prophezeihung! Nach den Tulamidenkriegen in der Khôm half Erm Sen dabei, eine Wolfsplage hier im Bornland einzudämmen und erwarb sich dabei den Namen Steppenwolf. Oft fanden wir auch den Hinweis, dass er bereits vor dieser Wolfsplage immer einen riesigen Wolf bei sich hatte. Na ja, war ja auch ein Nivese, nichts besonderes also. Erm Sen verdingte sich dann als Fechtlehrer in Vallusa und lehrte dort unter anderem seine berühmte Fechttechnik, den Wolfsbiss. Dann wurde er von einem Wüstenelfen aufgespürt. Es kam es zu einem Duell auf dem Zwergenplatz, bei welchem Erm Sen den Wüstenelfen Nantiagel tödlich verwundete. Nun fühlte er sich auch in Vallusa nicht mehr sicher, denn seit seinem Fund der Silberflamme wurde er immer wieder von Wüstenelfen gestellt und zu Duellen gefordert, und so zog er von Vallusa weiter nach Ysilia. Nun, wir taten es ihm also viele Jahrhunderte später gleich und gingen ebenfalls in die tobrische Herzogsstadt. Aber ich sehe gerade, nun gibt es erstmal Wichtigeres als meine Saga, das Wohl!“ Mit diesen Worten lehnt sich Phileasson zurück und schaut in Richtung des Nebenraums, aus welchem der Thorwaler Jorgen gerade ein riesiges Holzbrett mit Bratheringen herausträgt. Alle Aufmerksamkeit gilt nun dem Essen, und schon bald hört man in der Halla das Schmatzen der anwesenden Nordmänner und das Klirren der Trinkhörner.

 

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