Die Phileasson-Saga: Khunchom, die Perle am Mhanadi-Delta
Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko
aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson
Ottaskin der Hetleute, Thorwal
9. Firun 1009 nach Bosparans Fall
Seit den frühen Morgenstunden tobt der winterliche Rondrikan bereits über der tief eingeschneiten Stadt Thorwal. Erst nach der Mitternachtsstunde scheint die stürmische Rondra endlich ein Einsehen mit den Menschen dort unten zu haben, denn der eisige Nordwind wird spürbar schwächer. In der Großen Halla in dem Prunkjolskrim der Hetleute steht der hünenhafte Hetmann Asleif Phileasson neben einem der mit Pergament bespannten Fenster. Mit einem großen Schluck stürzt er den letzten Rest Premer Feuer aus seinem Trinkhorn hinunter, dann wirft er das Horn achtlos hinter sich. Leicht schwankend begibt sich der Nordmann an das Kopfende des mächtigen Eichenholztisches, welcher die Mitte der Großen Halla dominiert. Phileasson lässt sich schwer in seinen Holzstuhl sinken, blickt kurz in die Runde der anwesenden Nordmänner und spricht: „Das Wohl! Mir scheint als ob das Vernichten von Premer Feuer auch den Rondrikan da draußen vertreibt, ha!“ Während Phileasson sich ein weiteres gefülltes Trinkhorn reichen lässt, schmunzelt der junge Skalde Mandred Ormson und nickt bestätigend mit dem Kopf. Währenddessen prostet der Hetmann der Glutströhm-Ottajasko dem Moha Ynu zu, nimmt einen weiteren Schluck des hochprozentigen Rübenschnapses und setzt dann an, seine Saga fortzuführen:
„So! Die Hälfte der Saga ist nun bereits erzählt, Mandred! Sechs Aufgaben lagen zu diesem Zeitpunkt bereits hinter uns und dem Blender, doch wir und nicht Beorn waren an erster Stelle, das Wohl! Den zweizähnigen Kopfschwänzler im Land der Yetis hatten wir zwar beide finden können und auch den Himmelsturm konnten wir beide erkunden. Doch während wir uns in der Folge um die Rauwölfe kümmerten, reiste Beorn zusammen mit der finsteren Schwarzelfe Pardona direkt ins Bornland. Drei zu zwei für uns also! Auch Selflanatil, das Schwert der Orima, konnten wir Beorn vor der Nase wegschnappen, also vier zu zwei! Den Seeschlangenzahn konnten wir beide an uns bringen, auch wenn Beorn den Zahn aus dem Kadaver einer längst verrotteten Seeschlange brach, während wir tapfer und heldenhaft gleich zwei dieser Ungeheuer auf offener See besiegen konnten! Tja, leider zählte bei der Aufgabe nur das Ziel und nicht der Weg dorthin! Bei der Suche nach dem Largala'hen konnten wir uns dann zum ersten Mal nicht gegen den Blender behaupten, denn Pardona setzte uns mit ihren finsteren Schergen und ihrer Hranngar-Magie zu, bei Swafnir! Wer weiß ob zu dieser Zeit Beorn überhaupt noch das Kommando hatte. Wie dem auch sei, insgesamt stand es also fünf zu vier für uns und wir waren zuversichtlich, trotz aller Rückschläge im Perlenmeer den Vorsprung gegen Beorn und seine düstere Reisegefährtin in Khunchom weiter ausbauen zu können!
Die Reise zur Ostküste Aventuriens verlief ohne größere Zwischenfälle und so erreichten wir die Stadt Khunchom etwa eine Woche nach unseren Erlebnissen in der Sargasso-See. Ich hatte die Stadt zuvor noch nie zu Gesicht bekommen und ich war beeindruckt, als ich diese Tulamidenstadt zwischen den zahlreichen Flussarmen an der Mhanadi-Mündung nun zum ersten Mal sah! Die Stadt wird oft ‚Perle am Mhanadi-Delta‘ genannt und tatsächlich tauchten die weißgetünchten Mauern und die mit goldenen Kuppeln geschmückten Rundtürme der Stadt wie eine strahlende Perle an der Küste Aventuriens vor uns auf! Kodnas Han wollte aus nachvollziehbaren Gründen nicht in den Aimiar-Zahbahr – den Hafen Khunchoms – einfahren, und so ließen wir die ‚Tiger von Tuzak‘ zurück und legten die letzten Meilen bis zur Küste in einem Beiboot zurück.
Im weitläufigen Hafen Khunchoms gingen wir schließlich an Land und tauchten in eine der buntesten Metropolen Aventuriens ein, das Wohl! Nachdem wir uns eine Unterkunft gesucht hatten gingen wir natürlich sofort zum Tempel des zwölfgöttlichen Götterfürsten, im Marktviertel der Stadt gelegen. Wie es Shaya vorausgesehen hatte erwartete uns der Geweihte dort bereits und überreichte uns eine steinerne Tafel mit goldener Inschrift. Dort stand zu lesen:
Findet den der sprechet wahr im Basar der Stadt Fasar. Nur eines einzelnen Schicksal stellt euch vor die Wahl, eure Gruppe zu teilen und folgend erneut zusammen zu verweilen. Erfüllt des Träumers Visionen, er wird euch sicher führen lebendigen Stein zu berühren, tief im Sand der Äonen.
Eine auf den ersten Blick einfache und klare Aufgabe, nicht wahr Mandred? Wir beschlossen daher, bereits am nächsten Tag nach Fasar aufzubrechen. Das Schicksal des Einzelnen war uns zu diesem Zeitpunkt noch ein Rätsel, doch sollten wir schon wenige Stunden später mehr darüber erfahren.“ Phileasson nimmt einen weiteren Schluck Premer Feuer und kratzt sich dann ausgiebig am Nacken, ehe er zu Mandred gewandt weiter spricht: „Die nächsten Stunden verbrachten wir dann damit, durch die Gassen Khunchoms zu schlendern und unsere Ausrüstung zu vervollständigen. Unzählige Brücken über die zahlreichen Arme des Mhanadis gab es dort, das war wirklich eine Reise wert. Auch hier war es laut, doch im Vergleich zu der Lautstärke einer maraskanischen Stadt zieht wohl jede Stadt auf dem Festland den Kürzeren, das Wohl! Der Magier ist dann natürlich auch gleich in Dar-Marustani, dem Stadtviertel der Maraskaner, verschwunden, während Roban es sich nicht nehmen lies, das berühmte Schmiedeviertel zu besuchen. Ich fand im Tempel der Neun Flüsse sogar einen Schrein zu Ehren des Gottwals. Ganz so verkehrt sind diese Tulamiden also doch nicht, bei Swafnir! Abdul, der uns in Festum mit dem Ziel Khunchom verlassen hatte, befand sich nicht in der Stadt. Ich muss sagen, dass ich dies damals auch nicht wirklich bereute, das Wohl! Natürlich kamen uns in Khunchom auch zahlreiche Gerüchte über den Krieg zwischen der schwarzen Pestbeule und den Wüstensöhnen zu Ohren. Du weißt ja, wie die ganze Sache ausgegangen ist: die Al'Anfaner haben letztendlich von den Novadis ordentlich eingeschenkt bekommen und mussten sich wie schleimige Quallen wieder aus der Khôm zurückziehen, das Wohl!“ Bei diesen Worten prostet der Hetmann den anwesenden Nordmännern grinsend zu. Ein vielstimmiges „Das Wohl!“ schallt durch die Große Halla und zahlreiche Trinkhörner werden geleert. Phileasson stellt sein Horn krachend auf den Tisch, wischt sich mit der Hand die letzten Tropfen Alkohol aus dem eisblonden Bart und spricht dann weiter:
„Jedenfalls, da wir an diesem Tag sowieso nicht mehr gen Fasar abreisen konnten und wir uns zudem noch nicht über die Bedeutung der gesamten Aufgabe aus dem Praios-Tempel im Klaren waren, beschlossen meine Recken und ich, am Abend das große Gauklerfest auf dem Fetherdin-Platz im Nordwesten der Stadt zu besuchen. Ich kann mich noch erinnern, dass die Tage drückend heiß waren, die langen Nächte jedoch angenehm warm. Kein Vergleich zu unserem Thorwal hier im hohen Norden, das Wohl! Zahlreiche Schausteller wie auch Gäste aus allen Winkeln Aventuriens waren auf dem weitläufigen Fetherdin-Platz versammelt und viele seltene Dinge beanspruchten dort unsere Aufmerksamkeit. Der Andergaster hat sich sogar zum Spaß mit einem dicken Karawanenführer namens Rafim al'Hayabeth duelliert. Natürlich hat ihm Wulf keine Chance gelassen, doch der dicke Wüstensohn hat immerhin tapfer gekämpft, auch wenn seine maßlos übertriebenen Heldengeschichten dies zuvor nicht hätten vermuten lassen. Erinnerte mich an Beorn: Ein Aufschneider zwar, doch keineswegs feige im tatsächlichen Kampf Mann gegen Mann, dass muss man Rafim wie auch dem Blender zu Gute halten, das Wohl!“ Erneut schweift der Blick des Hetmanns suchend durch die Reihen der anwesenden Thorwaler. Er seufzt, als er den gesuchten Thorn Beornson weiterhin nicht unter den Zuhörern in der Halla ausmachen kann. Mit einem Schulterzucken spricht er weiter:
„Da kaum jemand von uns schon einmal von Khunchom durch Mhanadistan und Gorien bis nach Fasar gereist ist haben wir uns bei den vielen Reisenden auf dem Fest natürlich auch nach dem Weg erkundigt. Dabei kamen uns immer wieder wilde Gerüchte über die Gorische Wüste und den verrückten Sultan Hasrabal zu Ohren. Tja, einige meiner Männer sollten noch früh genug herausfinden, dass all die Schreckensgeschichten über die staubige Wüste Gor tatsächliche die Wahrheit nicht annähernd beschrieben haben, bei Firun! Doch dazu komme ich später.
Am Abend gesellten wir uns alle an eines der großen Lagerfeuer, an denen die tulamidischen Haimamudin ihre Geschichten zum Besten gaben. Einer der Haimamudin, Bukhar war sein Name, erzählte die Geschichte von Rashid al'Fessir, der nur mit einem Schachbrett und seiner Verschlagenheit einen wahrhaftigen Drachen überlistete und so seinen Karfunkelstein an sich bringen konnte. Teclador wurde der Drache genannt, laut Mythornius einer der sechs Alten Drachen, gottgleiche Wesen im Zwölfgötterglauben. Jenen Alten Drachen, dem meine Männer schon bald von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen sollten, aber ich greife schon wieder vor.
Mitten in der Nacht kam es dann auf dem großen Platz zu einem Tumult. Ein bunter Kastenwagen, so wie ihn das fahrende Volk oft nutzt, polterte mit rasender Geschwindigkeit auf den großen Fetherdin-Platz zu. Gezogen wurde der Wagen von zwei fast zu Tode geschundenen Pferden – das hat mir Roban später gesagt, nicht dass du denkst ich würde mich mit diesen Viechern auskennen, Mandred! – und ein schreckliches, animalisches Gebrüll war aus dem Inneren des Kastenwagens überdeutlich zu hören. Natürlich war die Aufregung groß und alles was laufen konnte, versammelte sich um den Kastenwagen der Neuankömmlinge. Wir natürlich auch. Irgendwann konnten wir aus den völlig verängstigen Gauklern herausbekommen, dass es sich bei ihnen um die berühmte Gauklerfamilie da Merinal handelte. Genau genommen nur um das Familienoberhaupt Jasper, seine Frau Rhovania sowie ihren Sohn Abbadi. Hinten saß zudem noch ihre Tochter Hama, die für das schreckliche Geschrei verantwortlich war. Die Gaukler berichteten unter Schluchzen und Zittern, dass sie von Fasar aus auf dem Weg nach Khunchom unterwegs waren, als am Fuße der Gor die Katastrophe ihren Anfang nahm. Erst verloren sie ihren Führer Urdo von Gisholm, dann zwang sie ein Radbruch am zweiten Wagen, in Sichtweite der düsteren Gor anzuhalten. Wenig später griff sie ein riesiges Ding an, welches laut ihrer Beschreibung einen Pferdekopf und über hundert Arme hatte! Wahrlich, hätte ich nicht zuvor die Schrecken Ometheons und der Sargasso-See erlebt, ich hätte diese armen Leute für verrückt erklärt! Den Gauklern blieb keine Wahl und sie traten mit dem verbliebenen Kastenwagen die Flucht an. Ihre beiden Söhne Colon und Shemjo konnten sie allerdings nicht mehr vor dem dämonischen Ungetüm retten und sie mussten hilflos mitansehen, wie das riesige Unghetüm ihren Sohn Shemjo in zwei Teile riss und den armen Colon aus dem Kastenwagen zog und ihn mit sich schleifte. Das alles war wohl auch der Grund, wieso Hama ihren Verstand verloren hatte und nun wild schreiend im Kastenwagen der Merinals saß.
Du kannst es dir nun sicher schon denken Mandred: In dem verschleppten Sohn der Gaukler vermuteten wir – nicht zu Unrecht! – jene Person, von der die Prophezeiung aus dem Praios-Tempel kündete. In der Folge entbrannte nun eine aufgeregte Diskussion, was zu tun sei. Einige der Meinen waren gegen eine Trennung der Ottajasko, andere dafür. Tja, den Ausschlag hat dann wohl letztendlich eine Frau gegeben, das Wohl! Die hübsche Shira, die Verlobte des vermissten Colon da Merinal, flehte uns an, ihren Liebsten zu retten. Und da sie wirklich mehr als ansehnlich war und dazu noch feuerrote Haare hatte, wurde Roban schwach. So kam es, dass wir uns letztendlich für eine vorübergehende Trennung der Ottajasko entschieden.“ Asleif unterbricht seinen Bericht und nippt ein weiteres Mal an seinem Trinkhorn. Dann streckt er beide Arme nach vorne und gähnt ausgiebig, ehe er ansetzt, weiterzusprechen:
„Die ganzen Reisen rund um Aventurien gehen nicht spurlos an einem vorbei, Mandred. Das wirst du auch noch merken, wenn du erst einmal mein Alter erreicht hast, das Wohl! Den Teil der Saga in Khunchom will ich noch zu Ende bringen, doch dann soll es für heute genug sein. Wir beschlossen also, die Ottajasko zu trennen. Ich reiste bereits am nächsten Tag zusammen mit Hakon und Shaya in Richtung Anchopal ab, um so schnell wie möglich Fasar zu erreichen und dort jenen im Basar zu finden, der ‚wahr‘ spricht – und dies hoffentlich vor dem Blender. Die übrigen Männer sollten sich um die vermissten Gaukler kümmern. Deswegen kann ich bei den folgenden Ereignissen nun auch nicht alles im Detail berichten, da ich die Ereignisse selbst nur aus den späteren Berichten meiner Männer kenne.
Meine Männer stellten Nachforschungen über Dämonen mit Pferdeköpfen an und stießen dabei auf einige wenig erbauliche Schriften. Schließlich heuerten sie den dicken Rafim als Führer an und brachen wenig später in Richtung der Wüste Gor auf. Dieser seltsame Haimamud Bukhar begleitete sie ebenfalls. Tja und dann nahmen die düsteren Ereignisse ihren Lauf, bei Firun! Das will ich aber erst morgen erzählen, denn nun will ich meine müden Glieder auf einem weichen Untergrund ausstrecken, das Wohl!“
Mit diesen Worten streckt der eisblonde Hetmann erneut die Arme von sich und gähnt herzhaft. Dann steht er schwerfällig auf und verabschiedet sich mit einem Nicken von den versammelten Nordmännern in der Großen Halla.