Die Phileasson-Saga: Der Unglückswolf
Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko
aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson
Ottaskin der Hetleute, Thorwal
5. Firun 1009 nach Bosparans Fall
Der Winterabend ist klirrend kalt, doch kaum ein Windzug weht über dem winterlichen Thorwal. Es ist still auf dem Kliff über der Stadt der Nordmänner. Phileasson stapft durch den Schnee der letzten Tage auf das Prunkjolskrim der Hetleute zu. Vor dem Tor zur Großen Halla zögert er ein wenig und blickt gedankenverloren in den klaren Sternenhimmel Nordaventuriens. Nach einer Weile erkennt er den Elfenstern, welcher ihm einst von Fenvarien gezeigt wurde. Seit einigen Tagen schon hat der blonde Thorwaler das Gefühl, das Sternbild strahlender als sonst wahrzunehmen. Zufrieden nickend wendet sich Asleif ab und tritt in die Große Halla ein.
Im Inneren der Halla prasselt ein Kaminfeuer, zahlreiche Fackeln an den Wänden treiben dem Neuankömmling die Tränen in die Augen. Der junge Skalde Mandred Ormson sitzt bereits an dem großen Eichenholztisch und steht ehrerbietig auf, um den Kapitän der Seeadler zu begrüßen. Daneben sind zahlreiche weitere Männer und Frauen anwesend, darunter auch der Moha Ynu, der selbst in der warmen Stube der Großen Halla trotz zahlreicher Pelze immer noch zu frieren scheint. Mandred klopft Asleif freundschaftlich auf die Schulter und geleitet ihn zu einem hölzernen Stuhl am Kopfende der Tafel. Phileasson nimmt mit einem zufriedenem Seufzer Platz, greift nach dem dort stehenden Trinkhorn, nimmt einen tiefen Schluck und setzt dann an zu sprechen:
„Das Wohl, Mandred Sohn des Orm Follkerson, du weißt wie man einem Thorwaler das Erzählen schmackhaft macht. Dann will ich also weiter von meiner Saga berichten. Wo war ich gestern stehen geblieben? Ach ja, die Reise nach Frigorn, die Steppen der Nivesen, ja, dort geht es nun weiter.“ Phileasson nimmt einen weiteren, tiefen Schluck aus dem Trinkhorn, während draußen ein einsamer, struppiger Olporter das Madamal anheult. Alle Anwesenden blicken gebannt auf den hünenhaften Nordmann, bis dieser endlich ansetzt weiterzusprechen:
„Bei Swafnir, dann will ich euch mal nicht weiter auf die Folter spannen, das Wohl! Die Reise nach Frigorn dauerte lange, doch verlief sie im Gegensatz zur Suche nach dem Himmelsturm fast ereignislos. Wir hatten noch einen kleinen Zwischenfall mit Wulf, der wohl durch irgendwelche lästerliche Magie der finsteren Elfe Pardona ausgelöst wurde. Na, am Ende hat sich das alles aufgeklärt, ich glaube nicht das die ganze Sache sonderlich gut in die Saga passen würde. Ja, schreib das lieber nicht auf Mandred, lass es weg, das würde dem Andenken Wulfs nur schaden.
Wir sind also auf unseren Eisseglern über die Bernsteinbucht bis zurück an die Nordküste Aventuriens gesegelt, um dort durch die Steppen der Nivesen bis nach Frigorn zu reisen. Frigorn ist ein kleines Nest mit höchstens hundert Einwohnern, größtenteils Nivesen und Jäger, nichts besonderes. Der Blaue See, den man schon lange vor Frigorn im Osten sehen konnte, der war allerdings recht beeindruckend. Fast komplett zugefroren lag er still und majestätisch vor uns, am Horizont konnten wir immer mal wieder, wenn sich die Nebel lichteten und der Himmel aufklarte, die wolkenverhangenen Gipfel der Eiszinnen erkennen.
In Frigorn haben wir dann endlich die dritte Aufgabe erfahren – du wirst es vielleicht nicht glauben wollen, doch Shaya hatte tatsächlich eine göttliche Eingebung und teilte sie uns mit seltsam veränderter, eindringlicher Stimme mit. Der Wortlaut war, wenn ich mich noch recht erinnere, in etwa so:
Sucht die Insel, bei der die Knochen der Erde das Klagelied vergangener Zeiten singen. Rettet das verlöschende Licht des alten Stammes, auf dass der Weg der Rauwölfe dort nicht sein Ende nehme, wo der Tod aus dem Süden ihre Fährte kreuzte!
Wir konnten uns erst keinen Reim darauf machen, und Shaya selbst wusste nicht einmal mehr, dass sie irgendetwas gesagt hatte.
Nach einigen Nachforschungen in Frigorn und später Farlorn hatten wir aber herausgefunden, dass es sich bei den Rauwölfen wohl um einen Nivesenstamm handeln muss, der am Ostufer des Blauen Sees sein Winterlager aufgeschlagen hat. Ungrimm hat die Knochen der Erde als Felsen erklärt, und tatsächlich gibt es, so sagte man uns, am Ostufer des Blauen Sees eine Halbinsel, auf welcher der Wind durch einige steil in den Himmel ragende Felsen weht und dabei ein Klagelied singt – bei den Nivesen nennt man diese daher auch die Felsen der Klagenden Ahnen, ein gar trefflicher Name.
Der Tod aus dem Süden war uns weniger klar, doch trafen wir schon bald darauf auf zwei seltsame Gestalten, die uns aufklären konnten: Den Peraine-Geweihten Osais und den Doctore Bombastus Barraculus, die beide gen Osten unterwegs waren, um dort den an den Zorgan-Pocken erkrankten Nivesen zu helfen. Dies war also mit dem Tod aus dem Süden gemeint! Ich kann dir sagen Mandred, das waren vielleicht zwei seltsame Fische! Beide wollten sie den jeweils anderen überzeugen, wie überlegen ihre Heilkunst doch sei und wie minderwertig die des anderen doch ist. Wir dachten anfangs es ist eine gute Idee die beiden Heiler mitzunehmen, da wir augenscheinlich das gleiche Ziel hatten, doch das ständige Gelaber der beiden Besserwisser war wahrlich ermüdend, das Wohl!“ Phileasson prostet dem Moha zu und dieser hebt ebenfalls sein Trinkhorn. Ein leichtes Grinsen umspielt dabei seine fremdartigen Züge. Dann fährt Phileasson fort: „Mit Maultieren und Paaviponys sind wir in der kalten Nordnacht dann zum Stamm der Rauwölfe aufgebrochen. Wir reisten am Ufer des Blauen Sees entlang und schon wenige Tage später haben wir auch die ersten Anzeichen der Zorgan-Pocken gesehen. Vor uns lag das Lager eines Nivesenstammes, in welchem der Tod aus dem Süden unerbittlich Einzug gehalten hatte. Von weitem sah es so aus, als ob die Toten verbrannt worden waren. Drei Leichen am Rande des Lagers waren jedoch nicht dem Feuer übergeben worden, sicherlich die Letzten des Stammes, die von der grausamen Seuche dahingerafft wurden. Ein Wolfshund kauerte noch immer neben einer der Leichen. Wir waren erst uneins, haben dann aber letztendlich entschieden, das verlassene Lager nicht zu betreten, hatte uns doch Barraculus über das hohe Risiko für Leib und Leben aufgeklärt. Und dies war erst der Anfang …“ Phileasson hebt sein Methorn und lässt sich nachschenken, ehe er mit seiner Erzählung fortfährt: „Des Nachts hatten wir eine wirklich grausige Begegnung. Stöhnen und Klagen erklang vor uns, und der schreckhafte Eigor dachte gleich an die Toten, die auf dem Grunde des Sees aufsteigen um die Lebenden in die Tiefe zu zerren. Mit gezückten Waffen harrten wir auf das, was dort aus der dunklen Nacht auf uns zukommen mochte, doch es waren nur Goblins! Doch nicht die kriegerischen Rotpelze, die dem arglosen Wanderer sein letztes Hemd abnehmen, sondern mit Pocken verunstaltete, kranke Kinder und Greise, die sich nur noch mit Müh und Not auf den Beinen halten konnten und trostlos in unsere Richtung wankten. So ganz Unrecht hatte Eigor also gar nicht, das Wohl! Wir wussten nicht was wir tun sollten und schließlich verlor Ungrimm gar die Beherrschung und schoss einer der näher kommenden, bedauernswerten Gestalten einen Bolzen in den Schädel. Doch die übrigen Goblins umringten uns noch immer, flehende Blicke in ihren tierähnlichen Augen. Ich kann dir sagen, das will ich niemals wieder erleben, lieber kämpfe ich alleine gegen ein Dutzend Rotpelze als vor todkranken Kinder und Greisen der Goblins zu stehen und nicht zu wissen, was zu tun ist!“ Phileasson atmet hörbar aus und greift nach einem langen Messer neben ihm. Er schneidet ein ordentliches Stück vom vor ihm liegenden Brotlaib ab und beißt herzhaft hinein. Kauend fährt er fort: „Nie zuvor habe ich mich Firun so nahe und Ifirn so fern gefühlt, niemals, nicht einmal während den stürmischen Tagen auf See.“ Phileasson schüttelt den Kopf, beißt nochmals von dem Brotkanten ab und spricht weiter: „Na, wie dem auch sei, kranke Goblins passen auch nicht so recht in eine Heldensaga, das Wohl! Lass das weg Mandred oder erwähne es nur kurz, niemand soll glauben das wir mit den rotbepelzten Räubern mehr Mitleid als angebracht hatten!
Wir zogen also weiter und hörten auch schon bald klagende, unwirkliche Töne, die der Ostwind an uns herantrug – wir waren unserem Ziel sehr nahe! Wenig später gesellte sich noch ein beißender Gestank dazu, der ebenfalls von Osten kam – der Gestank von dem Feuer übergebenen Leichen! Nach einer Weile sahen wir das Lager der Rauwölfe vor uns liegen, zwischen den sicherlich mehreren Dutzend Zelten waren zwei mächtige Scheiterhaufen errichtet, auf denen offensichtlich die Toten des Stammes verbrannt wurden – wir waren also spät, doch nicht zu spät gekommen, so hofften wir damals!
Während wir noch beratschlagten was zu tun sei preschte eine Reiterin aus dem Lager auf uns zu. Die Reiterin, eine junge Frau mit schneeweißen Haaren und seltsam schrägstehenden, bernsteingelben Augen, hielt einige Schritt vor uns an und rief uns zu: Kommt nicht näher Fremde! Der Tod aus dem Süden sucht die Zelte der Rauwölfe heim! Kommt nicht näher! Kehret um und rettet eurer Leben!
Bei Swafnir, eine wahrlich herzliche Begrüßung, die uns das Herz nicht gerade leichter machte. Trotzdem konnten wir Nirka, so hieß die junge Nivesin, überzeugen, dass wir helfen wollten, und so haben wir wenig später unser Lager aufgeschlagen, natürlich in genügend großem Abstand zum Lager der Rauwölfe.“
Phileasson hält inne und blickt erfreut auf, als zwei Nordmänner eine große Holzplatte mit gebratenem Fleisch und geräuchertem Fisch in die Halla tragen. Während draußen klirrende Kälte herrscht macht sich in der beheizten Halla der Thorwaler Geschäftigkeit breit. Erst nach einigen Minuten – jeder der Thorwaler hat mindestens ein Stück Fleisch oder Fisch in den Händen, die Bärte tropfen vor Fett – kehrt langsam wieder Ruhe ein und Asleif Phileasson beschließt, selbst noch kauend, mit seinem Bericht fortzufahren. Kurz kommt ihm der Gedanke, dass es die Achtung vor den Toten verbietet, mit vollem Mund über sie zu sprechen, doch dann verwirft er diesen Gedanken wieder und spricht:
„Nun ich will nicht lange über Krankheit und Siechtum reden, dies macht sich nicht gut in einer Heldensaga, für wahr. Sowohl Bruder Osais als auch der Doctore haben bald begonnen, die Heilung der Nivesen anzuleiten. Es war recht verwirrend, wollte doch jeder der beiden meist das genaue Gegenteil des anderen, doch letztendlich trugen sie wohl beide zu gleichen Teilen zum Erfolg bei. Meine Männer halfen mit wo sie nur konnten, errichteten Scheiterhaufen und bauten neue Holzhütten für die Gesunden, weit außerhalb des eigentlichen Lagers. Roban erwies sich hier erneut als fähiger Zimmermann und leitete den Bau. Der Magus Mythornius hat zusätzlich noch seine magische Kraft in die Heilung der Kranken einfließen lassen.
Auch die große Karenherde des Stammes musste zusammengetrieben werden. Ich weiß heute nicht mehr, ob wir dort Tage oder gar Wochen verbrachten und wie viele Nivesen wir nicht zu retten vermochten, doch letztendlich konnten wir die Krankheit tatsächlich besiegen.
Ein Großteil der Rauwölfe wurde allerdings ein Opfer der Pocken, und auch Crottet hat unsere Hilfeleistung nicht überlebt. Mythornius und Hakon haben sich die Pocken ebenfalls eingefangen, haben die Krankheit aber überlebt. Ob Nivesen wohl besonders anfällig gegenüber dieser schreckliche Krankheit sind? Bei Swafnir, wir jedenfalls hatten Glück, Crottet und die anderen hingegen nicht. Auf Crottet, der seinen Teil zum Erfolg dieser Queste beigetragen hat und viel zu früh zu Firun ging! Das Wohl!“ Phileasson hebt sein Trinkhorn und prostet in die Runde. Die Thorwaler heben ebenfalls ihre Methörner, und unter dem Klirren der Trinkhörner erschallen die Rufe: „Auf Crottet! Auf den tapferen Nivesen!“ Phileasson selbst nimmt einen tiefen Zug, ehe er weiterspricht: „Eine Sache, die war allerdings seltsam. Nirka bestand darauf, dass wir aus der Herde der Karene zwanzig Tiere fangen und sie des Abends zwischen den Felsen der klagenden Ahnen anpflocken um so die Geister der Ahnen gnädig zu stimmen. Nun, wir erfüllten ihr diesen Wunsch, doch vor allem Wulf packte die Neugier. Ein seltsames Schauspiel war das, wie Nirka, auf allen Vieren und nur mit einem Wolfspelz bekleidet, zusammen mit einigen großen Wölfen über die angepflockten Karene herfiel. Nirka selbst biss einem der Karene gar in die Kehle und riss blutiges Fleisch aus dem klagend schreinenden Tier! Ich glaube heute, niemand hätte das überhaupt sehen dürfen, und so hatten wir im Nachhinein Glück, dass nicht einer von uns selbst zum Opfer der wilden Wölfe wurde. Irgendetwas verbindet diesen Stamm mit den Wölfen, vielleicht liegt es auch schon alleine am Namen, ich weiß es nicht. In den kommenden Wochen wurde das Lager auf jeden Fall immer wieder von Wölfen umschlichen, und das nächtliche Heulen des Rudels zehrte an den Nerven. Auch später sollten uns die Wölfe unter ihrem Anführer Blauauge begleiten, doch dazu später mehr. Inzwischen bin ich mir sicher, dass Nirka mit den Wölfen sprechen konnte, doch wie sie das machte, das habe ich auch heute noch nicht verstanden, vielleicht will ich das auch gar nicht verstehen.“ Phileasson blickt angespannt in die Runde und hält kurz inne. Die anwesenden Thorwaler warten alle gespannt auf die Fortsetzung der Erzählung, nur das gelegentliche Klirren der Trinkhörner durchbricht die Stille in der Großen Halla. Endlich fährt der Hetmann der Glutströhm-Ottajasko fort: „Unsere Aufgabe war nach der Rettung des Stammes vor den Pocken noch nicht beendet, das war uns allen schon bald klar. Ganz klar hieß es: Damit der Weg der Rauwölfe nicht sein Ende nehme! Nirka erklärte uns nämlich schon bald, dass die Rauwölfe jedes Jahr mit ihrer Karenherde über den Rabenpass ins Bornland ziehen, um dort in der Nähe von Festum ihre Karene zu verkaufen und Waren zu erstehen, die sie selbst nicht herstellen können. Ohne diesen jährlichen Zug würde der von den Pocken schwer gezeichnete Stamm die nächsten Jahre nicht überleben, so sagte sie uns eindringlich. Nun Mandred, du kannst dir schon denken auf was das am Ende hinausgelaufen ist, nicht wahr?“ Phileasson schaut den jungen Skalden fragend an, dieser nickt bestätigend. Daraufhin fährt Asleif fort: „Aber erstmal werde ich ein wenig frische Luft schnappen, mir kommt es schon so vor als ob ich eine rußige Fackel in der Nase stecken habe, das Wohl! Wer solange wie ich auf allen Meeren Aventuriens unterwegs ist, den hält es eben nur kurz in solch engen Behausungen, selbst wenn es solch prächtige wie unsere Halla sind, bei Swafnir!“ Unter dem beifälligen Gemurmel der anwesenden Zuhörer steht der Kapitän auf, streckt sich mehrmals und geht hinaus in die eisige Winternacht Thorwals.