Die Phileasson-Saga: Die Eiswüste
Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko
aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson
Ottaskin der Hetleute, Thorwal
4. Firun 1009 nach Bosparans Fall
Kurz vor Mitternacht haben auch die letzten Männer und Frauen in der Großen Halla ihren Hunger gestillt. Während draußen der Wintersturm mit unverminderter Wucht gegen die Fenster und Türen der Gebäude Thorwals anstürmt ist es im Langhaus der Nordmänner recht behaglich. Ein knisterndes Feuer wärmt den Saal und taucht alles dort in ein flackerndes Licht. Lediglich der Waldmensch am Tisch scheint trotz seiner vielen Pelze zu frieren. Während draußen der eisige Nordwind über dem Kliff ein neues Lied anstimmt wendet sich der junge Skalde an den Kapitän: „Das Wohl, ich bin gespannt wie es mit der Saga weitergeht, Asleif! Bei Swafnir, ich will nicht eher vom Tisch aufstehen als die Saga ihr Ende findet.“ Mit diesen Worten beginnt er mit kleinen, verschnörkelten Schriftzeichen eine neue Pergamentseite zu füllen. Der hünenhafte Hetmann ihm gegenüber grinst und erwidert mit lauter Stimme:
„Ha, dann wird dein Arsch wohl noch am Stuhl festfrieren, das Wohl! Soviel haben wir erlebt, soviel ist zu berichten, dass es wohl noch Tage dauern wird, ehe alles gesagt ist! Das alles kannst du dir gar nicht vorstellen … Nun gut, dann will ich also fortfahren.“ Phileasson verschränkt die Arme und schiebt mit dem Fuß einen zweiten Holzstuhl heran. Gemütlich lehnt er sich zurück und legt die Beine auf den zweiten Stuhl. Dann setzt er an zu sprechen: „Vom Lager der Hrm Hrm also, das ganz im Süden am Fuße des Yeti-Lands liegt, haben wir unsere Eissegler mühsam auf die Hochebene des Yeti-Lands hinauf gebracht und sind von dort nach Norden aufgebrochen, in Richtung des von Galandel beschriebenen alten Heiligtums, dem Wegweiser zum Himmelsturm. Über zwei Tage waren wir unterwegs, dann hatten wir die am nördlichsten Punkt Aventuriens gelegene Felsnadel, auf der sich das alte Heiligtum erhebt, endlich erreicht.
Urtümliche und verwitterte Steinstufen führten nach oben, sicherlich 30 Schritt steil in die Höhe. Dort, mit Blick auf das sich unter uns erstreckende ewige Eis, fanden wir einen schlichten Altar aus grauem Basalt – so wussten es zumindest die Zwerge zu sagen – um welchen sich vier steinerne Statuen gruppierten. Die Statue östlich des grauen Altars stellte eine Elfe mit langen, fließenden Gewändern dar, die sich beständig zu verändern schienen. Genau wie die Elfe selbst, die sich immer wieder von einer jungen, wunderhübschen Elfenmaid bis zur edlen Greisin, ähnlich unserer guten Garhelt – Swafnir sei ihr gnädig! –, veränderte. Selbst der Stein, aus der die Statue gemacht war, schien die Farbe zu wechseln. Diese Statue stellte die Göttin des Lebens und des Werdens dar, von den Elfen Nurti genannt, wie wir später lernten. Auf der anderen Seite, genau gegenüber der Göttin des Lebens, befand sich die Statue der luchsköpfigen Zerzal, die Göttin von Krieg, Tod und Verderben. Eine weitere Statue, aus rotem Sandstein gearbeitet – der sicher nicht von dort stammen konnte, wie Ungrimm sogleich mit Kennermiene anmerkte – stellte einen mächtigen Drachen dar: Pyr, der hochelfische Gott der Elemente Feuer, Wasser, Wind und Humus. Rechts des Drachens befand sich die Göttin des Schicksals, dargestellt als blinde Elfe mit Schwert und Kelch, aus dem Stein gearbeitet – Orima, wie wir später noch erfahren sollten. In jede der Statuen war zudem ein wunderbar schimmernder und makellos scheinender Edelstein eingearbeitet. Ach, was rede ich, schau her!“ mit diesen Worten kramt der eisblonde Nordmann in einem Beutel neben sich und scheint schließlich fündig zu werden. Vorsichtig stellt er eine kleine marmorne Statue vor sich auf den Tisch. Die wunderschön gearbeitete und lebensecht wirkende Figur stellt eine Elfe mit verbundenen Augen dar, die in der einen Hand einen Kelch, in der anderen ein schimmerndes Schwert trägt. Mandred schaut sich die kunstvoll gearbeitete Figur genau an, und auch viele der anderen anwesenden Nordmänner rücken näher, um einen Blick auf die Statue zu erhaschen.
„Ja, das ist Orima, die Göttin des Schicksals. Wir sollten sie dort oben nicht zum letzten Mal gesehen haben, das Wohl! Wir verbrachten die Nacht also dort oben, denn Galandel eröffnete uns zuvor, dass die Träne erst beim Anbruch des neuen Tages ihre Wirkung entfalten könne. Die Nacht über fühlten wir uns wohl alle seltsam beobachtet und es herrschte eine recht beklemmende Stimmung, die vor allem unser abergläubischer Angroscho Eigor kaum aushalten konnte. Einige von uns schienen gar von Träumen der Vergangenheit heimgesucht zu werden, sahen elfische Eissegler über das ew'ge Eis gleiten und dergleichen mehr. Ich glaube heute, dieser Ort war etwas Besonderes. Ist das Volk der Hochelfen auch untergegangen, Mandred, dort oben haben ihre Götter noch immer eine Macht, die greifbar erschien.
Kurz vor Sonnenaufgang legten wir die Träne der Nurti dann in die kleine Mulde in der Mitte des basaltenen Altars und wir wurden Zeugen eines gewaltigen Schauspiels alter elfischer Zauberei, das Wohl! Fast direkt danach tauchte die Sonne für kurze Zeit am nördlichen Himmel auf und gleißende Bahnen aus purem Licht gingen von den vier Edelsteinen der einzelnen Statuen aus und fielen direkt auf den Stein der Nurti! Ein ähnlich heller Lichtstrahl brach aus der Träne hervor und deutete in die Richtung, in der der Turm des Himmels liegen sollte! Nordnordost, das war also unser Kurs! Mühsam haben wir dann die Eissegler die Klippen hinuntergeschleppt. Das war eine Plackerei, kann ich dir sagen. Dann, auf der weißen, endlos erscheinenden Ebene der Eiswüste angekommen, sind wir aufgebrochen. Ach, nicht zu Unrecht haben wohl die meisten Männer Respekt oder gar Angst vor den zaubermächtigen Elfen, denn auch nach all den Jahrtausenden waren die Edelsteine dieser Statuen noch gut gegen jegliches Unbill geschützt, wie unser Roban schmerzvoll erfahren musste.“
Bei diesen Worten kann sich der hünenhafte Thorwaler ein Grinsen nicht verkneifen. Auch der Moha nickt grinsend, während die anderen Anwesenden den Sinn dieser Anmerkung nicht zu verstehen scheinen. Der Hetmann fährt jedoch ohne weitere Erklärung fort: „Wie lange die Reise nach Norden wirklich dauerte, das kann ich dir heute gar nicht mehr sagen, Mandred. Es schien endlos weiterzugehen, die eisige Ödnis schien kein Ende zu nehmen – wahrlich, das war das Land Firuns. Nach zwei, vielleicht drei Tagen sichteten wir am Horizont zum ersten Mal überhaupt eine Erhebung, einen kleinen Hügel aus Eis. Beim Näherkommen erkannten wir, dass der doch recht große, dabei aber ungewöhnlich flache Hügel von einem Kranz von aus dem Eis gehauenen Blöcken umgeben war.
Auf den Eisblöcken haben wir die Symbole der alten Elfengötter ausmachen können, die allerdings von einer seltsamen, scheinbar später hinzugefügten geflügelten Sonne überzeichnet waren. Damals konnten wir uns darauf noch keinen Reim machen, hatten wir doch noch nichts von Pardonas Kult der geflügelten Sonne und deren Blutbad unter den Elfen Ometheons erfahren. An der Nordseite des vielleicht sechzig Schritt durchmessenden Hügels führten tatsächlich einige Stufen hinab zu einer aus dem Eis gehauenen, aber offensichtlich eingeschlagenen Tür.
Nachdem wir einige Zeit überlegt hatten ob wir da rein sollten – bei Swafnir, es sah nicht gerade einladend aus, das kann ich dir sagen, Mandred! – entschloss ich mich doch, meine Männer dort hineinzuführen. Nach einigen rutschigen Stufen aus Eis gelangten wir in einen dunklen Raum, der von unregelmäßigen, wie gefrorenes Wasser wirkenden Säulen dominiert wurde. Waren die Wände vielleicht einst mit Zeichnungen geschmückt, so hatten Satinavs Hörner ihr Werk getan und es waren nur noch unkenntliche Überreste übrig geblieben. Heute weiß ich, dass die Zeichnungen wohl ursprünglich die Gärten, das riesige Meer inmitten des Turms und all die anderen Wunderwerke des Himmelsturms darstellten, doch damals wusste ich von derlei Elfengeschichte weniger als es trinkfeste Al'Anfaner auf Dere gibt, das Wohl! Im Zentrum des Raumes war ein fast komplett verkohltes Buch zu finden. Trotz dieser offensichtlichen Zeichen von Feuer war es da unten kälter als irgendwo sonst, das sag' ich dir. Und wenn ich da unten schon gefroren habe, was denkst du wie es dann erst Ynu erging, hm?“ Lachend prostet der Hetmann seinem Freund zu, der Moha erwidert den Gruß ebenso. Dann fährt Asleif Phileasson fort:
„In der Nordwand fanden wir einen Gang, durch den es weiter in die Tiefe des eisigen Grabes ging – denn ein Grab war es, nur wussten wir das damals zu dieser Zeit noch nicht, sonst wären wir wohl gar nicht erst da runter marschiert. Durch den Gang gelangten wir in einen wesentlich tiefer gelegenen zweiten Raum, den eine große, leuchtende Kugel an der kuppelförmigen kristallenen Decke ausleuchtete. Einige Altarsteine waren in diesem Raum mit den geschwärzten Wänden zu finden, ebenso wie gefrorene Elfenleichen! Einer der Elfen kam offenbar durch einen Eiszapfen, der mit großer Wucht in seinen Rücken gerammt wurde, ums Leben. Ein anderer Elf stand einfach nur da, versteinert oder vereist, mit verzerrter Miene. Der letzte der toten Elfen schien mitten in der Bewegung, er holte wohl zum Schlag gegen wen oder was auch immer aus, erstarrt zu sein. Daneben fanden sich dort noch vier eisige Altäre, den alten elfischen Gottheiten gewidmet.
Nun, durch das Schicksal der Elfen vorgewarnt – wir sind ja nicht blöde, bei Swafnir! – schlich sich lediglich der furchtlose Roban langsam in das Innere dieses Raumes. Wir hatten nämlich feine Fäden aus Licht entdeckt, die die ganze Kammer wie ein Spinnennetz durchzogen. Sie alle gingen von der kristallenen Kugel aus, die direkt unter der Decke zu schweben schien. Durchbrach man einen der Lichtfäden, so schossen eisige Geschosse aus kleinen Öffnungen in den Wänden hervor, um den Eindringling zu durchbohren. Roban versuchte also mit einer Decke die Kugel abzuschirmen, doch so vorsichtig er auch war, er durchbrach doch einige der Lichtbahnen und wurde fast von einigen der kristallenen Geschosse getroffen. Dem Magus gelang es dann, die Kristallkugel mit einem Zauber zu verdecken, ich glaube er ließ die Felldecke einfach um die Kugel schweben! Letztendlich gelang es uns so, die tödliche Falle dieses Raumes hinter uns zu lassen. In der Nordwand fanden wir eine weitere eisige Tür vor, die wir mit vereinten Kräften aufbrechen konnten. Ein Gang führte weiter in die eisige Tiefe des Grabes.
Wir gelangten nun in eine große Halle mit kuppelförmiger Decke, wohl das Allerheiligste des Grabhügels. In der Mitte des im Vergleich zu den vorherigen Räumen ungleich größeren Raumes stand ein schlanker, gut erhaltener Eissegler elfischer Bauart – ich kann dir das heute sagen, da ich mich nach dem ganzen Elfenzeug das wir zu Gesicht bekommen habe wirklich damit auskenne – auf dem ein Elf aufgebahrt war. Klirrend kalte Thronsessel aus Eis säumten den Raum rund um den Segler, auf jedem der mächtigen Sitze die Leiche eines Elfen, jung wie alt. Deutlich konnte man die Kampfspuren an jeder der Leichen erkennen. Bei genauerem Hinsehen fanden wir auch zahlreiche Nischen an der Rückwand der Halle, in welchen ebenfalls die Leichen gefallener Elfen aufgebahrt waren. Eigor hat es da unten ganz schön mit der Angst zu tun bekommen, genau wie Ungrimm auch. Sind beide rausgerannt, ich glaube Angroschim sind ganz schön ängstlich wenn es um Tote geht. Aber Ungrimm hat das auf der Reise irgendwann in den Griff bekommen – Eigor nicht, möge ihm Swafnir gnädig sein.
Heute weiß ich natürlich wer genau da unten war: Emetiel, der Bruder Ometheons, und seine Mannen waren hier von den Überlebenden der Schlacht auf dem Eis bestattet worden, nachdem Pyr selbst Pardona und ihre Schergen des Kults der geflügelten Sonne vertrieben hatte! Die Wandbilder der großen Grabhalle zeigten in erstaunlicher Kunstfertigkeit die Geschichte vom Bau und letztendlich vom Fall Ometheons, die wir damals noch gar nicht so begriffen hatten. Weit beunruhigender war jedoch, dass wir auf einem recht blassen Wandbild auch einige Menschen und einen Zwerg sahen, die gerade in das Grabmal vordringen! Ich schwöre bei Swafnir, ich bin mir sicher wir waren das auf dem Wandbild, das Wohl! Das hat uns wirklich geschockt, vor allem den Zwergen. Dunkle Magie, sicherlich!
Na auf jeden Fall, nachdem wir gesehen hatten was dieser Eishügel darstellt sind wir ohne was anzurühren wieder raus – man stört nicht die Ruhe der Toten, Firun sei ihnen gnädig! Der Nostrier konnte es allerdings nicht lassen und riss Emetiels Schwert aus dessen eisiger Hand. Ich glaube er hat es recht schnell bereut und bekam es mit der Angst zu tun, doch das Zurückbringen des Schwertes wie auch zahlreiche Opfergaben konnten den elfischen Rachegeist nicht besänftigen! Schreckliche Alpträume plagten ihn, und lange zeugte ein elfisches Schandmal mitten auf seiner Stirn von seiner Tat! Lynx nennt sich so ein Rachegeist, wie wir später erfahren haben.
Ach ja, auf dem Eissegler des Emetiels stand sogar eine Widmung, die Eigor – wieso konnte der Angroscho eigentlich die elfische Schrift lesen? Darauf habe ich bis heute noch keine vernünftige Antwort gefunden, das Wohl! – uns vorlas. In etwa so, wenn ich mich recht erinnere:
Sein Bruder wagte vom Himmelsturm den Himmels-Sturm. Uns alle traf dafür der Fluch der Götter. Jetzt sind die Herzen derer, die hier bestattet liegen, zu Eis geworden, doch haben sie Glück, in die Obhut Zerzals – du weißt, die elfische Göttin des Todes – gegangen zu sein und nicht mehr weiterleben zu müssen, wie jene, die ihre Herzen dem Kult des Leuchtenden Geistes geopfert haben.
Damals haben wir das natürlich noch nicht verstanden, wussten wir doch kaum etwas über den Untergang des Turms, den die Elfen Himmelsturm oder Ometheon nannten. So segelten wir also weiter in Richtung Nordnordosten, und die kurzen Tage mit ihren langen Nächten vergingen ohne Eweitere reignisse.“
Der Hetmann atmet tief ein und scheint fast wehmütig auf eines der Fenster der großen Halla zu blicken. Bei genauerer Betrachtung kann man allerdings erkennen, dass der Blick des Nordmanns in weite Fernen zu schweifen scheint, als ob er sich nochmals an die Erlebnisse erinnert, von denen er dem jungen Skalden berichtet.