Die Phileasson-Saga: Prolog

Reisebericht des ‚Königs der Meere‘, Hetmann Asleif Phileasson von der Glutströhm-Ottajasko

aufgezeichnet von Mandred, Sohn des Orm Follkerson

  

Ottaskin der Hetleute, Thorwal

4. Firun 1009 nach Bosparans Fall

  

Firun. Frostmond. Grimfrostmond. Viele Bezeichnungen gibt es für den eisigen Monat, welcher dem Herren Firun zu eigen ist. Eine lange Winternacht beginnt sich über Thorwal, die Hauptstadt der Nordleute, zu senken. Frostig beißender Wind lässt die Menschen in ihren warmen Stuben verschwinden, einzelne Schneeflocken tanzen am Himmel entlang. Der Hafen Thorwals ist schon längst nicht mehr befahrbar. Die meisten Ottas liegen im Winterhafen der Stadt vor Anker und sind von Eis und Schnee bedeckt.

Beeindruckend erhebt sich das westlich gelegene Kliff über die Stadt der Hetleute und leise dringt ein Pfeifen von den steilen Felsen herüber, an denen sich der eisige Wind bricht. Der prunkvolle Gebäudekomplex der Hetleute Thorwals, Ottaskin genannt, erhebt sich wie ein Bollwerk gegen Kälte und Wind auf dem weitläufigen Plateau des Kliffs. Fackelschein dringt durch die mit Pergament bespannten Fenstern der großen Halla. Fröhliche Stimmen und das Geräusch von klirrenden Trinkhörnern dringen aus dem Inneren der Halla nach draußen. Winselnd schleicht ein abgemagerter Hund um das Gebäude, während man hinter einem der Fenster die Silhouette eines stattlichen Mannes entlanglaufen sieht. Es ist Asleif Phileasson, Hetmann der Glutströhm-Ottajasko, Ehrenmitglied der Aman'Kai des Hochkönigs der Elfen und König der Meere. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen schreitet er langsam auf und ab. Seine eisblauen Augen blicken dabei eindringlich einen weiteren Nordmann an, der es sich am großen Eichentisch der Halla bequem gemacht hat, Schreibfeder und Pergament vor sich liegend. Sehr jung scheint der zweite Nordmann zu sein, vielleicht zwanzig Götterläufe, keinesfalls jedoch älter. Wer Ohm Follker einst kannte, der erkennt in dem jungen Nordmann die Züge des freundlichen, alten Skalden wieder. Es ist der junge Mandred Ormson, der einzige Sohn Orm Follkersons.

Der blonde und hünenhafte Asleif nimmt einen kräftigen Schluck aus einem Trinkhorn und stellt dieses dann geräuschvoll vor sich auf den mächtigen Steineichentisch ehe er, die Arme vor der Brust verschränkt, zu sprechen beginnt:

Ja. Am Besten wird es wohl sein, wenn ich von Anfang an alles berichte. So wie sich damals alles zugetragen hat und dein Vater sich seinen Platz in den saphirblauen Hallen Swafnirs verdient hat. Ich will nichts auslassen, nichts beschönigen, es soll so nieder geschrieben werden wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Kannst du mir das versprechen, Mandred Ormson?“ Dabei schaut Phileasson den jungen Thorwaler ernst und abwartend an. Dieser nickt nach einer kurzen Weile und erwidert: „Bei Swafnir, so sei es! Ich werde eine Saga schreiben, wie sie noch nie gehört wurde! Sie wird überall in Thorwal bekannt sein, überall in ganz Aventurien, das Wohl! Selbst die fetten Granden in der Pestbeule des Südens sollen von den Taten wissen, die du und deine Männer vollbracht haben und sich vor Neid die Haare raufen, bei Swafnir!

Während die übrigen anwesenden Männer und Frauen ihre Zustimmung mit klappernden Trinkhörnern kundtun, umspielt ein Schmunzeln die Mundwinkel des Hetmanns, als er den Eifer und den Übermut des jungen Skalden bemerkt. Dann wird seine Miene wieder ernst, während er zufrieden nickt. Mit einem tiefen Seufzer lässt er sich auf den Stuhl am Kopfende des Eichentischs der großen Halla nieder, direkt neben dem Platz des Skalden. Dann, nachdem er sich noch einen weiteren Schluck aus seinem Trinkhorn genehmigt hat, setzt er erneut an zu sprechen:

„Gut. Gut so. Dann will ich also beginnen …“ Asleif blickt Mandred einen Augenblick an, scheint dabei aber mit den Gedanken an einem anderen, weit entfernten Ort zu sein. Dann spricht er weiter:

„Es war im Winter 1007 BF, in der Nacht auf den 1. Firun. In der großen Halla hatten sich die Hetleute ganz Thorwals versammelt, um gemeinsam mit der obersten Hetfrau Garhelt das Fest der Wintersonnenwende zu feiern. Du kannst dir sicher vorstellen, dass es weder an Met noch an Essen mangelte. Klirrende Becher und fröhliche Reden klangen durch die Halla des Langhauses, wie es Swafnir eben wohl gefällt, das Wohl!“ Mandred grinst und nickt wissend, während der blonde Kapitän fortfährt: Wie es in Thorwal schon seit Jahrzehnten üblich ist, waren auch zahlreiche Fremdländer aus allen Winkeln des Kontinents zum Fest eingeladen worden, um uns dort mit Berichten über ihre Reisen und Heldentaten zu erfreuen. Tapfere und brave Männer und Frauen waren das, von denen ich so manchen während meiner weiten Reise noch besser kennenlernen sollte – doch ich schweife ab. Wie immer bei einem solch prächtigen Fest gab es auch hier einen Schandfleck. Beorn, genannt der Blender – Firun möge sich trotz aller Vorkommnisse seiner Seele annehmen – hatte es sich ebenfalls im Langhaus gemütlich gemacht und prahlte gerade wieder von seinen angeblichen Entdeckungsfahrten. Nun Mandred, im Gegensatz zu Beorn war ich wirklich an den Küsten des Güldenlands unterwegs und so merkte ich nur zu gut, was für einen Hranngarschiss der kleinwüchsige Knilch da von sich gab! Irgendwann ist mir dann der Kragen geplatzt und ich konnte nicht mehr an mich halten. Ich sprang auf, schmetterte mein Methorn auf den Boden dass es nur so krachte und brüllte laut heraus, was ich von Beorns angeblichen Kaperfahrten ins Güldenland und seinen sonstigen Märchen so halte. Während ich also des Blenders Geschichte nach und nach auseinandernehme, durchdringt die laute Stimme der Hetfrau die Halla. Schlagartig wurde es still im Langhaus.“ Phileasson lehnt sich zurück und atmet tief ein. Dann fährt er fort: „Kein Mann wagte es mehr das Methorn zu erheben. Ich kann mich noch recht genau an ihre Worte erinnern, Worte, die die folgenden Jahre meines Lebens bestimmen sollten. Sie sagte: Ich werde nicht dulden, dass sich meine besten Drachenführer wegen solcherlei Lappalien an die Kehlen gehen! Beorn, Phileasson, ihr beide zählt zu den Drachenführern, die meine braven Thorwaler am meisten bewundern und zahllose Lieder berichten von euren beispiellosen Fahrten und Heldentaten! Nun scheint es wohl an der Zeit zu sein um festzustellen, wer von euch beiden der Bessere ist. Ihr sollt und werdet ganz Aventurien bereisen und Aufgaben zu bestehen haben, an denen jeder Andere scheitern würde! Derjenige, der sich dabei als der Bessere erweist, wird als ‚König der Meere‘ in die Sagas der Skalden eingehen und wird von mir reich entlohnt werden. Heuert nun wagemutige Seeleute und Streiter aus allen Teilen der bekannten und unbekannten Welt an, denn kein Mann aus eurer eigenen Ottajasko soll euch auf dieser Reise begleiten dürfen. So rüste jeder seine Otta und finde sich in zehn Tagen  mit seinen erwählten Recken wieder in dieser Halla ein. Dann werde ich die Regeln und die Aufgaben dieses Wettkampfes bekanntgeben. Das Wohl! Diese Worte hat sie gesprochen Mandred, und noch die ganze Nacht sollten die anwesenden Thorwaler und Reisenden über dieses Ereignis reden.

Ich aber hatte andere Dinge im Kopf und ging in Gedanken schon die möglichen Reiserouten durch. Wo sollte es wohl hingehen? Weit in den Süden, in die azurblauen Wasser der Charyptik? Oder die Küste Thorwals entlang nach Norden? Schon am nächsten Morgen suchte ich mir eine Mannschaft zusammen, von der man noch viel hören sollte. Tapfere Männer, denen ich heute unzählige Male mein Leben verdanke und die mit mir in den Weiten der Meere Hranngars Kinder gestellt und besiegt haben. Doch ich greife voraus, das Wohl!“ Phileassons Blick scheint wieder wehmütig in die Ferne zu schweifen. Während draußen der eisige Wind immer stärker zu werden scheint, wartet der junge Skalde in der warmen Halla gespannt auf die nächsten Worte des Kapitäns. Dieser gibt einen melancholischen Seufzer von sich und prostet dann mit seinem Trinkhorn dem Sohn Orm Follkersons zu. Nachdem beide Thorwaler ihr Trinkhorn geleert haben setzt der blonde Hetmann an weiter zu erzählen:

Nun, merke dir die folgenden Namen, Mandred Ormson, auf das diese Helden niemals wieder vergessen werden und in den Liedern unserer Skalden auf ewig weiterleben! Ich fand in Raluf einen treuen Gefährten mit schlichtem Gemüt, der zu meinem Steuermann wurde. Auch meinen jetzigen Steuermann Ynu lernte ich damals bei der Suche nach einer Mannschaft kennen. Skarn, ein Norbarde von den jenseitigen Küsten Aventuriens, zog mit mir. Eigor Eisenbeiß, einen freundlichen und geschwätzigen Angroscho, nahm ich mit auf die Reise. Wulf Steinhauer, ein aufgeweckter Kämpfer aus dem Königreich Andergast, schloss sich mir ebenfalls an. Sein Scharfsinn sollte uns noch so manches Mal vor dem Scheitern bewahren. Mythornius, ein weiser Magus aus dem fernen Bornlande, nahm ebenfalls an meiner Wettfahrt teil. Natürlich war ich froh darüber, denn mir war klar, dass bei den zahlreichen bevorstehenden Aufgaben magischer Beistand sicherlich nicht schlecht ist. Ich sollte mehr als nur Recht behalten, das Wohl! Ungrimm, ein weiterer Angroscho, aus den Nordmarken stammend, muskelbepackt und schwer gerüstet, wollte dabei sein. Schon bald sollte sich herausstellen, dass der Zwerg ein überaus furchterregender Kämpfer ist. Roban Loken, ein Schmiedegeselle aus dem benachbarten Nostria, trat meiner Gruppe bei. Sein grenzenloser Mut beeindruckte mich im Verlauf der Reise unzählige Male, das Wohl! Hakon al-Hashinnah, ein freigelassener Gladiator aus dem verfluchten Al'Anfa, lies es sich nicht nehmen an der Wettfahrt teilzunehmen. Crottet, ein nivesischer Jäger, schloss sich unserer Mannschaft an. Und ja, natürlich auch dein Vater, Orm Follkerson. Auch viele tapfere Männer und Frauen aus unserem rauen Land waren dabei, doch die zuerst genannten Männer sollten noch entscheidende Rollen spielen. Ja, das sollten sie wohl.“ Phileassons Blick schweift erneut in die Ferne. Draußen übertönt für einen kurzen Augenblick das Jaulen eines Hundes den frostigen Gesang des Windes. Mandred winkt einen Diener herbei, um die Trinkhörner auffüllen zu lassen, während er Phileasson erwartungsvoll anblickt. Der hünenhafte Hetmann verschränkt die Arme hinter dem Nacken und lehnt sich zurück. Dann spricht er weiter:

„Nun, ich sollte, nein ich muss ehrlich sein. Es wäre nicht ehrenhaft zu verschweigen, dass sich auch Beorn manch tapferer Recke angeschlossen hatte, der sich später durch so manche Heldentat unsterblichen Ruhm verdienen sollte. Aber zurück zu meiner Mannschaft, den schließlich waren es meine Männer und nicht Beorns Mannen, die die Wettfahrt für sich entscheiden konnten! Na, so mutig und tapfer diese Mannen auch waren, mit einer Otta, nein, da konnten die meisten nichts mit anfangen. So verbrachte ich die nächsten Tage also mehr schlecht als recht damit, diesen Landratten zusammen mit Raluf  die Grundlagen einer guten Seefahrt auf einem echten thorwalschen Drachenboot beizubringen.

Die Tage vergingen wie im Flug, und schon bald war es dann endlich soweit. Meine Mannschaft und ich versammelte sich genau wie Beorn und seine Mannen in der Großen Halla der Hetleute. Kaum ein Thorwaler lies sich dieses Schauspiel nehmen – ach was erzähle ich eigentlich, du warst ja ebenfalls dabei, Mandred.“ Mandred nickt bekräftigend, ein lautes „Das Wohl!“ kommt über seine Lippen. Asleif redet weiter: „Nun, jedenfalls sprach Hetfrau Garhelt nochmals zu uns: Edle Drachenführer, höret nun die Regeln, die für eure Wettfahrt gelten sollen. Ihr werdet der Aufgaben zwölfe zu lösen haben, eurer Weg wird euch dabei in die fernsten Winkel des bekannten Aventuriens führen – und weit darüber hinaus! Bei Swafnir, wie weit hinaus, das hätte ich mir damals nicht einmal vorstellen können! Sie sprach also weiter: Wie es sich für einen Wettstreit unter echten Thorwalern gehört dürft ihr euch handfest wehren, doch dem Gegenspieler ernsthafte oder gar tödliche Verletzungen beizubringen wird den gerechten Zorn Firuns auf euch niederrufen! Ihr werdet als Bettler und Fürsten reisen, in eisiger Kälte und sengender Hitze, und mehr als Mut wird nötig sein, um erfolgreich zurückzukehren. Achtzig Wochen gebe ich jedem von euch beiden Zeit, die Aufgaben zu einem guten Ende zu bringen. Damit ihr die Aufgaben ehrenvoll löst, wird jeden von euch eine Geweihte der Travia begleiten, die die Regeln des Wettkampfes hochhalten wird. Ihr Urteil über euch wird am Ende entscheiden, also verhaltet euch weise. Erfahrt nun die ersten beiden Aufgaben, während ihr die anderen im Laufe eurer Reise bekommen werdet! Fahrt ins Land der Yetis und findet dort einen zweizähnigen Kopfschwänzler. Doch gebt acht und fangt das Tier lebend, denn es soll zurück in den sicheren Hafen Thorwals gebracht werden! Wenn sich eure Ottas mit der kostbaren Fracht zurück auf dem Weg nach Thorwal befinden, werdet ihr selbst mit wenigen Auserwählten in den eisigen Norden aufbrechen. Dort findet den Turm, mit welchem die Welt am Gewölbe des Himmels befestigt ist – und der deshalb von den Elfen des Eises Himmelsturm genannt wird – und entreißt ihm seine Geheimnisse! Sodann findet ihr euch in Frigorn ein um eure nächste Aufgabe zu erfahren. Nun brecht auf, meine tapferen Hetmänner! Zwei Handelsschiffe werden euch vor der Küste des Yeti-Lands erwarten, um die Expedition ins ew'ge Eis mit allem Nötigen auszustatten! Möge Swafnir mit euch und euren Leuten sein! Mit diesen Worten endete Garhelt ihre Ansprache an mich und Beorn, und gespanntes Raunen machte sich unter den anwesenden Mannschaftsmitgliedern und Schaulustigen breit. Ich wollte jedoch keine Zeit verlieren und rief meine Männer zusammen, um zur ‚Seeadler‘ zu eilen. Beorn lies es sich natürlich nicht nehmen und tat es mir gleich.

Schon bald hatten wir beide unsere am Vortag von Eis und Schnee befreiten Schiffe erreicht, ließen in aller Hast die Segel setzen und die Männer die Ruder ergreifen. Und dann ging es, unter den Blicken hunderter Thorwaler, in bitterster Kälte und wehendem Schnee hinaus auf das Meer der Sieben Winde!“ Wieder umspielt ein wehmütiger Ausdruck das Gesicht des Kapitäns, als ob er jenen Zeiten nachtrauert, von denen er dem jungen Skalden erzählt. Schließlich scheint sich der Hetmann einen Ruck zu geben und er steht auf, von einem lauten Knarren des Holzstuhls begleitet. Zu Mandred gewandt fährt er fort: Komm Mandred, lass uns einen Augenblick nach draußen gehen, ich will den belebenden Atem Firuns in meinem Gesicht spüren.“ Der junge Skalde nickt und erhebt sich ebenfalls, gemeinsam gehen die beiden Nordmänner nach draußen in den Hof der Ottaskin, während die anderen Nordleute in der Halla gespannt auf die Fortführung der Saga von Asleif Phileasson warten.

 

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